Für Betroffene und ihre Familien ist jede Krankheit wichtig
Sie betreffen nur wenige Menschen und können ganz unterschiedliche Verläufe nehmen: Seltene Erkrankungen. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Da es eine Vielzahl derartiger Krankheiten gibt, leben allein in Deutschland etwa vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung. An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) erforschen Wissenschaftler die Grundlagen Seltener Erkrankungen.
Herr Professor Sass: Seltene Krankheiten sind selten, wie schon der Name sagt. Warum forschen Sie ausgerechnet in diesem Bereich?
Jörn Oliver Sass: Für die davon Betroffenen und ihre Familien ist jede Krankheit wichtig. Da ist es nicht entscheidend, wie viele Menschen davon weltweit betroffen sind. Für jeden Einzelfall kann die Kenntnis der Ursachen und Mechanismen von großer Bedeutung sein, die einer Krankheit zugrunde liegen. Auf dem Weg über ein besseres Verständnis der Krankheit kann sich oft die Labordiagnostik optimieren lassen, können aber auch Grundlagen für die Entwicklung von Behandlungsansätzen geschaffen werden.
Was macht es so schwierig, die Ursache einer Seltenen Erkrankung aufzuklären?
Jörn Oliver Sass: Erst einmal muss daran gedacht werden, dass eine Seltene Krankheit vorliegen könnte. Viele davon sind so selten, dass ein Arzt nicht mehr als einem einzigen Patienten damit im ganzen Berufsleben begegnen wird. Das Bewusstsein für die Existenz Seltener Krankheiten ist etwas, das mit dem Internationalen Tag der Seltenen Erkrankungen auch gefördert werden soll. An vielen Universitätskliniken gibt es Zentren für Seltene Erkrankungen, die dann den Weg zur Diagnose unterstützen können.
Seltene Krankheiten sind oft genetisch bedingt. In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit den funktionalen Auswirkungen von Gendefekten. Woran genau arbeiten Sie?
Mike Althaus: Meine Forschungsgruppe beschäftigt sich unter anderem mit genetisch bedingten Störungen von Ionenkanälen. Das sind Eiweiße, die in den Zellmembranen sitzen und dazu beitragen, die Salz-Konzentrationen im Körper zu regulieren. Wenn man weiß, wie diese Ionenkanäle funktionieren und wie genau ein solches Eiweiß verändert ist, lassen sich zum Teil Vorhersagen zur Krankheitsentstehung treffen, oder dazu, welche Klassen von Medikamenten helfen können.
Jörn Oliver Sass: In meiner Gruppe sind es vor allem angeborene Stoffwechselstörungen. Wir erforschen im Labor unter anderem Grundlagen des Stoffwechsels verschiedener Aminosäuren sowie deren Störungen. Auch genetische Defekte im Ketonkörper-Stoffwechsel interessieren uns, also Krankheiten, die darauf zurückzuführen sind, dass eine Art der Energieversorgung nicht funktioniert, die im Hungerzustand besonders wichtig ist.
Kann die Forschung zu Seltenen Krankheiten uns bei den großen Volkskrankheiten weiterhelfen?
Mike Althaus: Ja, das gilt in mehrfacher Hinsicht. Zum Beispiel gibt es einen kleinen Anteil von Patienten mit Bluthochdruck, bei denen ein Ionenkanal verändert ist, der den Natrium-Gehalt des Körpers reguliert. Bei dieser Untergruppe ist dann ein ganz anderer Therapieansatz erfolgversprechend als in anderen Fällen. Wir können aber auch von diesen Seltenen Erkrankungen lernen und beispielsweise unser grundlegendes Verständnis der Blutdruckregulation erweitern.
Jörn Oliver Sass: Davon können dann langfristig viele Menschen mit Bluthochdruck profitieren. Ähnlich lassen sich aus Mechanismen, die bei seltenen Stoffwechselstörungen erforscht werden, auch Rückschlüsse auf Stoffwechselwege und Prozesse bei anderen Krankheiten ziehen.
An der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg gibt es keine Klinik und es werden keine Patienten betreut. Wie können Sie trotzdem biomedizinische Forschung zu Seltenen Krankheiten durchführen?
Mike Althaus: Weil sich bei Seltenen Krankheiten wenige Patienten vielfach auf zahlreiche Kliniken und Betreuungseinrichtungen verteilen, geht im Bereich der Seltenen Krankheiten kaum etwas ohne Kooperation, meist erfolgt weltweite Zusammenarbeit. Dementsprechend sitzen Kooperationspartner oft Hunderte oder gar Tausende von Kilometern entfernt. Wir können aber auch viele genetische Störungen in Ionenkanälen durch moderne biochemische und physiologische Methoden funktional im Labor untersuchen, ohne dabei auf Blut oder Gewebeproben von Patienten angewiesen zu sein. Gleiches gilt auch für die experimentellen Arbeiten von Professor Sass.
Jörn Oliver Sass: Im Stoffwechsel-Bereich arbeiten wir unter anderem daran, mit gentechnischen und biochemischen Methoden die funktionalen Auswirkungen eines Gendefektes zu erforschen, der bei einem Patienten im Iran entdeckt worden ist. Da wir eine von ganz wenigen Arbeitsgruppen weltweit sind, die zu dem betroffenen Gen forschen, sind wir um Hilfe gebeten worden. 2021 haben wir zum Beispiel Kollegen der Uniklinik Münster dabei unterstützt, eine neu entdeckte Störung im Abbau der Aminosäure Valin zu charakterisieren. Spannend ist auch, wenn wir Studierende und Doktoranden der H-BRS in solche Projekte einbinden und in die Welt der Forschung einführen können.