Mittwoch, 17. Mai 2023

Bernhard von Grünberg: Wahlbeobachtung Türkei 2023

Bernhard von Grünberg: Wahlbeobachtung Türkei 2023

Seit vielen Jahrzehnten befasse ich mich mit den Verhältnissen in der Türkei, insbesondere mit der kurdischen Frage. Schon vor circa 40 Jahren habe ich das Kurdische Institut in Bonn mitbegründet in einer Zeit, in der in Deutschland von der PKK, wegen der Auseinandersetzungen in der Türkei, unter anderem Autobahnen besetzt wurden.

Das Kurdische Institut sollte mithelfen, die bis dahin verbotene Kurdische Sprache durch Publikationen wieder mit Leben zu füllen. Wir wollten die deutsche Politik über die Hintergründe des Kundenkonfliktes informieren in einem breiten Bündnis aus Vertretern der der deutschen Gesellschaft (Heinrich Böll, ein Gewerkschaftsvorsitzende, ein Kardinal als Vertreter der Kirchen sowie einige Bundestagsabgeordnete).

Der Verein war sehr erfolgreich, aber leider beneidet von anderen kurdischen Organisation. Im Ergebnis wurde der Verein von diesen übernommen und kurze Zeit später aufgelöst.

Später dann war ich lange im Vorstand von NAVEND - eine kurdische Organisation mit ähnlichen Zielen. Ich habe mich in meiner Zeit im Landtag viel mit diesen Fragen auseinandergesetzt und bin mehrfach in die Türkei gefahren, vor allem in die Region mit mehrheitlich kurdischer Bevölkerung. Seit einigen Jahren bin ich Berater des KulturForum TürkeiDeutschland e.V. in Fragen des Ausländerrechtes für aus der Türkei geflüchteten Künstler, Journalisten, Schriftsteller etc.

Ich bin zu Prozessen gefahren z. B nach Istanbul, zu dem von Dogan Akanli, dem Schriftsteller aus Köln oder den von der Soziologieprofessorin aus Nizza Pinar Selek.

Aber auch zu Protestveranstaltungen gegen die Inhaftierung der Schriftstellerin Asli Erdogan, die inzwischen in Deutschland lebt.

Sie alle hatten sich eingesetzt für die Sache und die Geschichte der Kurden bzw. Armenier, was in der Türkei hochgefährlich ist. Schon diese Prozesse haben gezeigt, unter welchen politischen Druck die Justiz steht und wie willkürlich sie ist. Das Verfahren gegen Pinar Selek beispielsweise läuft bereits seit 25 Jahren mit vier Freisprüchen auch vom obersten Gericht.

Gleichwohl lässt die Staatsanwaltschaft nicht locker und fordert nach wie vor eine Bestrafung wegen Tatbeständen, die längst auch von anerkannten Sachverständigen widerlegt sind.

Unfassbar ist auch die Behandlung von Bürgermeistern aus der Kurdenregion, die der Partei HDP angehören. Sie sind abgesetzt und kriminalisiert worden, durch absurde Vorwürfe. Ich habe die Prozesse besucht gegen die letzten beiden frei gewählten Oberbürgermeister aus Diyabarkir, Frau Kicanak und Herr Misrati. Sie wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Misrati sollte als Arzt einen PKKKämpfer am Blinddarm operiert haben, Kicanak eine Wasserleitung in ein Dorf gelegt haben, auf dessen Friedhof PKK Kämpfer beerdigt seien.

Mit der Absetzung der Oberbürgermeister wurden in der Regel auch die Stadträte aufgelöst und Staatskommissare von der Regierung eingesetzt. Dass das bei der Bevölkerung nicht gut ankommt, ist nachvollziehbar. Die HDP wird nach wie vor mit hohen Ergebnissen gewählt.

An einer Beobachtung der Wahlen in der Türkei war ich sehr interessiert, insbesondere wegen der Frage, ob es in einem Land, in dem die Regierung die Inhalte der Medien bestimmt und kritische Journalisten längst eingesperrt oder vertrieben sind, überhaupt möglich ist, mit demokratischen Mitteln die Regierung abzuwählen. Diese Frage hat Bedeutung für viele Länder mit ähnlichen Herrschaftsstrukturen.

Eine kritische Berichterstattung erfolgt über die sozialen Medien, was aber auch gefährlich werden kann, da zum Beispiel Strafverfahren wegen angeblicher Beleidigung des Präsidenten in den sozialen Medien durchaus üblich sind.

Ein gutes Beispiel hierfür ist das Strafverfahren gegen den populären Oberbürgermeister aus Istanbul Imomoglou, der bei der Präsidentschaftswahl Erdogan hätte gefährlich werden können.

Wegen des laufenden Prozesses wegen einer angeblichen Beleidigung der Wahlbehörde, war es zu gefährlich zu kandidieren, da er bei einer Verurteilung das Amt nicht hätte antreten können.

In Katalonien war ich schon mehrfach Wahlbeobachter und von dort aus wurde vorgeschlagen, ob ich nicht in einer Wahlbeobachtungsgruppe der kurdischen HDP teilnehmen könnte, die nach umfangreichen Verhaftungen ihres Führungspersonals, jetzt vorsorglich zur Wahl kandidiert unter dem Namen einer grün-linken Liste, um einem Verbotsantrag zuvor zu kommen.

Da der Parteivorsitzende meiner Partei, der SPD, Lars Klingbeil kürzlich die HDP besucht und betont hatte, dass nicht nur die kemalistische CHP, sondern auch die HDP Partner der SPD seien, war es mir wichtig, auch als SPD Politiker dort zu sein und nicht nur Vertreter der Partei die Linke, die sich verdientermaßen schon lange um die Lage der HDP kümmert. Diese Feststellung von Lars Klingbeil war wichtig, um dabei zu helfen, das seit langem gestörte Verhältnis der Funktionäre der CHP zu der Kurdenfrage zu überwinden. Die HDP hatte zu dieser Wahl keinen eigenen Präsidentschaftskandidat aufgestellt, sondern empfohlen die Kandidatur von dem Vorsitzenden der CHP Kilicdaroglu zu unterstützen.

Nachdem ich die Einladung bekommen hatte, bin ich nach Diyarbakir geflogen. Am Freitagmittag habe ich dann ein Wahlkampfeinsatz der HDP begleitet und saß in einem Kleintransporter, der mit ohrenbetäubender kurdischer Musik hupend durch die Stadt fuhr. Wir sollten aus dem Fenster heraus Fahnen der HDP schwenken und diese auch an Passanten und Autofahrer verteilen, die dann auch damit schwenken konnten. Für mich eine ungewöhnliche Wahlkampfaktion, die erinnerte an die fröhlichen Autokorsos bei uns nach erfolgreichen Fußballspielen oder als Höhepunkt einer Hochzeitsfeier mit Hupkonzert.

Am nächsten Tag, dem Samstag, war eine Wahlkampfveranstaltung mit ca. 50.000 Besuchern. Die Einstimmung für das Publikum war wieder mit Musik, zahlreichen kurdischen Kreistänzen, in denen Männer und Frauen zusammen tanzen und die eine gute Stimmung verbreiten. Daraus könnten wir in Deutschland bei unseren viel zu nüchternen und ernsten Veranstaltung was lernen.

Danach sind die ca. 40 Wahlbeobachter aus Frankreich, der Schweiz, Holland, Dänemark, Italien und Deutschland in die Regionen der Osttürkei gefahren, um dort mit Juristen und Dolmetschern die einzelnen Wahllokale zu besuchen.

Da das Auto, das uns zu unserem Einsatzort Bingöl fahren sollte mit vier Deutschen schon voll war, sollte ich in eine andere Region fahren. Den Organisatoren der HDP war es aber wichtig, dass ich dort am Abend an einer Diskussion mit verschiedenen NGO‘s teilnehme von der Juristen- und der Lehrervereinigung, den Architekten, dem Frauenverband und natürlich den Kandidaten für die Parlamentswahl.

Ich bin dann mit einem Fahrer, der ohne zu unterbrechen rauchte und telefonierte in höchster Geschwindigkeit in das 150 km entfernte Bingöl gerast um noch etwas von der Diskussion mitzubekommen.

Viele der Teilnehmenden hatten schon im Gefängnis in völlig überfüllten Zellen gesessen, wurden unter Folter zu irgendwelchen Aussagen gepresst und haben unter dem verrotteten Polizei- und Justizsystem gelitten, von dem ich ja schon viel erfahren hatte.

Sollte es tatsächlich zu einem politischen Wechsel in der Türkei kommen, muss es zuerst um die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit gehen. Es muss auch für Europa eine wesentliche Aufgabe sein, dabei zu helfen.

Am Wahlsonntag haben wir dann zwei Beobachtergruppen gebildet für Bingöl und die umliegenden Dörfer. Bingöl ist mit ca. 300.000 Einwohnern ein bisschen kleiner als Bonn. Trotz der überwiegend kurdischen Bevölkerung- jedenfalls optisch- eine konservative Gesellschaft mit vielen Kopftüchern und häufigen Verschleierungen.
Aber das mag ja täuschen.
Der frühere linke Bundestagsabgeordnete mit einem Wahlkreis in Koblenz Gert Winkelmeier und ich haben zusammen mit einem Rechtsanwalt und einem Dolmetscher ca. 15 Schulen mit ca. 40 Wahlräumen besucht. Ungewöhnlich für uns war, dass die Kandidaten der Parteien die Wahlräume besuchten und jedem der Wahlhelfer die Hand drückte. Auch uns gegenüber waren sie sehr freundlich und aufgeschlossen und nicht erstaunt darüber, dass wir Wahlbeobachter aus dem fernen Europa waren.

Ungewöhnlich für uns auch die Zusammensetzung der Wahlhelfer. Die größeren Parteien- also auch die Opposition - stellen die Beteiligten. Das ist sicher von Vorteil, wenn es zu Manipulationsversuchen bei Stimmabgabe und Auszählung kommen sollte. Die Wählerverzeichnisse hängen vor den Wahlräumen, vielleicht aus der Sicht des Datenschutzes problematisch, aber durchaus nützlich, dass Nachbarn überprüfen können, dass die Personen existieren und noch leben.

Die Wähler müssen im Wahlverzeichnis dann ihren Namen durch Unterschrift beglaubigen, nachdem sie ihre Wahlbenachrichtigung (die durch einen Stempel ungültig gemacht wird) und ihren Ausweis vorlegen mussten. Es gibt in den Räumen zwei nicht einsehbare Kabinen. Gewählt wird mit einem Stempel, mit dem der jeweilige Kandidat und seine Partei sicher bezeichnet werden kann, damit nicht durch Bleistifte oder Kugelschreiber ein Streit darüber entsteht, wo das Kreuz gemacht wurde. Für Sehbehinderte gibt es eine Schablone, mit der die richtige Stelle für den Stempel erfühlt werden kann.

Bei der Auszählung gibt es für jede Partei und jeden Kandidaten eine Zahlenreihe, in der die Ergebniszahl angekreuzt wird, um nicht durch Zahlendreher oder unklar geschriebene Zahlen ein falsches Ergebnis festzuhalten. Alle Mitglieder des Wahlvorstandes müssen die Ergebnisse durch Unterschrift bestätigen, so dass alle Parteivertreter sich gegenseitig kontrollieren können. Die Ergebnisse werden zunächst per Anruf und dann per geschlossenem Brief ins Rathaus weitergemeldet.

Schon am frühen Nachmittag lag die Wahlbeteiligung bei durchschnittlich 75 %. Es gibt in der Türkei eine Wahlpflicht. Wer nicht wählt, soll aber keinen Ärger bekommen, so wurde mir gesagt.

Mir sind keine Unkorrektheiten aufgefallen. Das System ist auch so strukturiert, dass Wahlmanipulationen sehr schwer sein dürften.

Am Nachmittag waren wir in dem Dorf, in dem unser Dolmetscher mit seiner Familie lebt. Auch dort haben wir das Wahllokal besucht. Im ländlichen Raum sollen die korrekten Wahlmöglichkeiten erschwert sein. Dort kennt man die politischen Einstellungen der Wähler. Dort soll es auch schwierig sein, die Wahlvorstände aus allen Parteien besetzen zu können. Uns wurde eine Liste von ca. 10 Dörfern genannt, in denen die Wahlvorstände nicht ordnungsmäßig besetzt waren. Wir hatten keine Zeit und Möglichkeiten, das zu überprüfen.

Wir sind dann von der Familie unseres Dolmetschers nach Hause eingeladen worden mit einem herrlichen, ländlichen und selbstgemachtem Essen und einer tragischen Familiengeschichte. Der Bruder des Vaters war bei der PKK. Der Vater ist ins Gefängnis gekommen und dort gefoltert worden, um Näheres über den Bruder und seine Freunde herauszubekommen. Er war lange im Gefängnis, der Bruder wurde getötet. Der Sohn, also unser Dolmetscher, ist als Jugendlicher nach Deutschland geflohen, kam dort in falschen Kreise, wurde zum Drogenhandel verführt und geschnappt. Nach zweieinhalb Jahren ist er vorzeitig in die Türkei abgeschoben worden und hat jetzt eine Wiedereinreisesperre bis 2034. Er würde gern seine Deutschkenntnisse vertiefen. Es fehlt aber, wie so oft in Staaten mit reichlich deutschsprechender Bevölkerung, an Büchern. Das ist mir seit langem ein Ärgernis in der auswärtigen Kulturpolitik.

Zurück in Bingöl haben wir im Parteibüro der HDP die ersten Ergebnisse der Wahl angesehen. Vom Anfang an gab es einen Abstand von ca. 5 % zwischen den Kandidaten. Es gab ein Auf und Ab je nach Fernsehsender. Wir sind dann zurück nach Diyabakir gefahren, um den Rest der Übertragung anzusehen. Das Ergebnis:
Erdogan 49,4% , Kilicdaroglu 45%, Ogan 5,2%. Es gibt in zwei Wochen also eine Stichwahl. Hier wird voraussichtlich aber Erdogan gewinnen, weil z.B. die Stimmen von Ogan, der Kandidat einer sehr konservativen Partei ehr zu Erdogan wechseln werden. Aber leider kenne ich mich zu wenig in der türkischen Seele aus, um das richtig vorherzusagen. Man wird sehen, wie die voraussichtlich letzten fünf Jahre der Präsidentschaft Erdogans sich entwickeln. Noch fanatischer, kriegslüstern und unterdrückend oder auf dem Weg der Aussöhnung, die Chance ergreifend für eine Wiedereinführung der Rechtstaatlichkeit. Er hat die Chance in die Geschichte der Türkei einzugehen als jemand, der dieses gespaltene Volk wieder zusammenführen könnte. Aber vielleicht sind das wirklich nur Träume wie über die Zukunft der Türkei ohne Erdogan

Bernhard von Grünberg, 15. Mai 2023