Dienstag, 15. November 2022

Lage spitzt sich zu: „Der soziale Frieden ist gefährdet“

 


Lage spitzt sich zu: „Der soziale Frieden ist gefährdet“

- Verdreifachung des Beratungsbedarfs bei der AWO

- Rasant wachsende „stumme Not“

- Mehr Stellen in der Sozialberatung gefordert


Siegburg/Bonn, 14. November 2022 – Immer mehr Menschen brauchen angesichts steigender Preise Beratung. Im Vergleich zu 2020 hat sich die Zahl der Klienten bei der Sozialberatung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis schon jetzt verdreifacht. Bereits im vergangenen Jahr kamen wegen Coronas doppelt so viele Menschen in die Beratungsstellen der AWO. In diesem Jahr nahm die Zahl der neuen Klientinnen und Klienten noch einmal um die gleiche Zahl zu. Seit Juni dieses Jahres sind alleine in Bonn 100 neue Klientinnen und Klienten zur AWO gekommen, im gesamten Jahr 150.
„Die Zahlen steigen in einer ungeheuren Dynamik“, schilderte AWO- Geschäftsführerin Barbara König heute in einer Pressekonferenz in Siegburg. „Die Beratungsstellen sind schon weit über ihr Limit hinaus.“ Und das sei kaum die Spitze des Eisbergs, weil die meisten Menschen sich aus Scham gar nicht erst beraten ließen. „Die stumme Not wächst rasant und gefährdet den sozialen Frieden in unserer Region.“ Die AWO fordert Kreis, Städte und Gemeinden deshalb auf, die Sozialberatung schnellst- und größtmöglich auszubauen. „Guter Rat ist nicht teuer, aber fehlender Rat kommt die Gesellschaft teuer zu stehen“, so König.

„Die Inflation kommt langsam, aber zunehmend und spürbar bei uns in der Sozialberatung an“, erzählt Christiane Kaspari, Leiterin des Bildungs- und Beratungszentrums der AWO in Bad Godesberg. „Immer mehr Menschen stehen vor dem Abgrund und kommen in die Beratungsstellen. Die Folgen erfährt Kaspari hautnah: Kindergeburtstage werden nicht mehr gefeiert, es fehlt an Winterkleidung, in betreuten Wohngruppen der AWO können keine Tomaten und kein Joghurt mehr gekauft werden, viele können sich Medikamente und Hygieneartikel nicht mehr leisten, Ältere verzichten gar aufs Duschen. „Diese Menschen können nicht mehr sparen, weil sie schon vorher im Pullover in ihrer Wohnung saßen und die billigsten Dinge des täglichen Bedarfs gekauft haben.“

Beratungsstellen überlastet
Schon durch Corona seien die Beratungen überlastet gewesen, erläutert Kaspari der aktuelle Andrang sei kaum zu bewältigen. Dies auch deshalb, weil Behörden wegen Coronas geschlossen gewesen seien. Noch heute sei bei einigen Behörden keine persönliche Beratung möglich. „Dazu kommt, dass die Fälle immer komplexer werden“, erzählt Sozialberaterin Viera Lohrey aus Siegburg. Die Dauer eines einzelnen Gespräches habe sich in der Hälfte der Fälle verdoppelt. „Wo wir bisher eine halbe Stunde brauchten, sind wir heute eine Stunde und mehr beschäftigt. Wir haben also immer weniger Kapazitäten für immer mehr Menschen.“ Inzwischen kämen nicht nur die Empfängerinnen und Empfänger von Hartz-IV-Leistungen oder anderer Grundsicherungen, sondern zunehmend Menschen, die eine Aufstockung benötigen, etwa Geringverdienende. Auch Wohngeldanträge nähmen zu. „Und dann dauert es extrem lange, bis Anträge bearbeitet werden – unsere Kundinnen und Kunden müssen also lange auf das Geld warten.“

Für die Sozialberaterin heißt das: „Bei rund 30 Anfragen täglich, in Spitzenzeiten auch weitaus mehr, sind Überstunden unvermeidlich. Trotz Überstunden ist die tägliche Arbeit aber nicht zu bewältigen.“
Der Andrang bei der Sozialberatung der AWO hat Konsequenzen: „Die Beratungsstellen sind vollkommen überlastet“, so AWO-Geschäftsführerin Barbara König. Ein Termin sei nur mit einem Vorlauf von drei bis vier Wochen zu bekommen, vor Corona war es eine Woche. „Bis dahin sind aber unter Umständen schon Fristen abgelaufen.“ Es bräuchte dringend weiterer Stellen, um in dieser Lage wenigstens die schlimmste Not lindern zu können. „Am besten flächendeckend, damit auch Menschen aus entlegeneren Orten in der Region eine Chance bekommen, mit der aktuellen Lage klar zu kommen.“
„Was bei uns in der Sozialberatung ankommt, ist nicht einmal die Spitze des Eisbergs“, so König. Einerseits weil die höheren Energiekosten noch gar nicht bei allen Haushalten angekommen seien. „Strompreiserhöhungen sind in vielen Fällen erst angekündigt, werden aber voraussichtlich mit der in diesen Tagen erwarteten Jahresabrechnung eintreffen.“ Andererseits sei die Scham enorm groß, in eine Beratungsstelle zu gehen und „seine finanzielle Lage offen zu legen.

Wer arbeiten geht, ist stolz darauf, sein Leben selbst meistern zu können.“ Wer mit geringem oder auch durchschnittlichen Gehalt in Not gerate, lasse sich erst einmal nicht beraten, sondern versuche, irgendwie durchzukommen. „Die stumme Not hat die Mitte der Gesellschaft erreicht. Sie wächst massiv. Der Aufschrei wird kommen. Mit massivem Echo, wenn wir jetzt nicht schnell handeln.“