Donnerstag, 12. Januar 2023

„Nachhaltige Arbeitsmigration muss nicht unbedingt in dauerhafte Einwanderung münden“

 Professor Michael Sauer, Foto: GIZ

„Nachhaltige Arbeitsmigration muss nicht unbedingt in dauerhafte Einwanderung münden“


Ob in der Altenpflege, im Handwerk oder in der IT-Branche: Fachkräfte werden in Deutschland händeringend gesucht. Am 19. Januar diskutiert der Bundestag über die Einwanderung von gut ausgebildeten Migrantinnen und Migranten. Bereits im Vorfeld gibt es in der Politik und den Medien Debatten darüber, wie Arbeitsmigration in Zukunft ausgestaltet werden sollte. Michael Sauer ist Professor für Sozialpolitik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS). In einem aktuellen Forschungsprojekt hat er verschiedene Formen geregelter Arbeitsmigration nach Deutschland untersucht. „Gelungene Migration sollte nicht nur anhand von ökonomischem Nutzen für das Zielland bemessen werden“, fordert er im Interview.

H-BRS: Herr Professor Sauer, in ihrer Forschung haben sie Interviews mit Migrierenden sowie mit verschiedenen Akteuren in Deutschland und den Herkunftsländern geführt. Was wollten Sie herausfinden?

Sauer: Die Motivation für unser Forschungsprojekt ist aus der Praxis heraus entstanden. Wir haben teilweise selbst an der Entwicklung und Durchführung von Pilotprojekten der Arbeitsmigration mitgewirkt. Bei der Frage, wann man eigentlich von einer gelungenen Arbeitsmigration sprechen kann, hatten wir jedoch oft nicht mehr als ein Bauchgefühl. Außerdem interessierte uns, wie die unterschiedlichen Akteure, also Migrantinnen und Migranten, aber auch Unternehmen sowie staatliche Akteure in Deutschland und dem jeweiligen Herkunftsland, auf die Migration blicken. Deshalb haben wir uns in Georgien, Kosovo und Vietnam unterschiedliche Formen der Arbeitsmigration angeschaut, um ein umfassendes Verständnis der Prozesse und Bewertungen zu entwickeln.

H-BRS: Eine für alle Seiten gelungene Arbeitsmigration bezeichnen sie als ‚nachhaltig‘. Was verstehen sie darunter?

Sauer: In der Migrationsforschung, aber insbesondere auch in der Migrationspraxis, gibt es den sogenannten Triple-Win-Ansatz. Demzufolge ist gute Migration dann erreicht, wenn alle drei Akteure, also das Herkunftsland, das Zielland und die migrierende Person, von der Migration profitieren. Grundsätzlich ist es gut, die Interessen all dieser unterschiedlichen Gruppen zu berücksichtigen. Unserer Meinung nach geht der Ansatz aber noch nicht weit genug.

H-BRS: Was genau kritisieren Sie?

Sauer: Der Nutzen, der sich aus dem Migrationsgeschehen ergibt, wird häufig mit ökonomischen Gewinnen gleichgesetzt, soziale Auswirkungen in den Herkunftsländern werden zumeist außer Acht gelassen. Darüber hinaus stellen wir die Frage nach der Verteilung des Nutzens: Wenn wir uns etwa Deutschland und ein Land wie Kosovo anschauen, dann existiert zwischen den Ländern beziehungsweise zwischen den beteiligten Akteuren eine gewisse Machtasymmetrie. In der Praxis bedeutet das, dass Akteure, die am Anfang ohnehin eine privilegierte Position hatten, am Ende tendenziell am meisten profitieren. In der Regel sind das die Zielländer. Diese Ungleichgewichte können sich unter dem Triple-Win-Gedanken sogar ausweiten. Bei unserer Konzeption von nachhaltiger Arbeitsmigration rücken wir daher die Frage in den Mittelpunkt, welcher Akteur am Ende was gewinnt und wie viel.

H-BRS: Was müsste verbessert werden, um Arbeitsmigration nachhaltiger zu gestalten?

Sauer: Alle Akteure müssen befähigt werden ein umfassenderes Verständnis von Kosten und Nutzen der Migration zu entwickeln. Ökonomische, aber auch nicht ökonomische Aspekte, kurzfristige und langfristige Aspekte, die die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen der Akteure aufgreifen, müssen betrachtet werden. Alle beteiligten Parteien müssen übereinkommen und dabei grundlegende ethische und legale Anforderungen berücksichtigen. Wenn sich alle Partner über die Ausgestaltung des Migrationsprozesses einig sind und die Modalitäten vertraglich festgehalten werden, dann würden wir sagen: Das ist nachhaltig. Was in der aktuellen Debatte um Arbeitsmigration oftmals vernachlässigt wird, ist der Rückkehraspekt: Nachhaltige Arbeitsmigration muss nicht unbedingt in dauerhafte Einwanderung in das Zielland münden.

H-BRS: Welche anderen Möglichkeiten gibt es?

Sauer: In ihrer Fachkräfteeinwanderungsstrategie spricht die Bundesregierung davon, dass Einwanderung nur dann nachhaltig zur Fachkräftesicherung beitragen kann, wenn die eingewanderten Personen dauerhaft in Deutschland bleiben. Dass hier nur dauerhafte Migration als Erfolg angesehen wird, finde ich nur eingeschränkt nachhaltig, weil es die Perspektive sehr stark darauf einengt, was wir in Deutschland brauchen. Die Bundesregierung sollte die Migrationsrealitäten annehmen und die Optionen und Förderinstrumente für dauerhafte und temporäre Rückkehr sowie den Wissenstransfer besser ausgestalten.

H-BRS: Haben Sie hier ein Beispiel?

Sauer: In unserer Forschung haben wir ein Migrationsprojekt untersucht, in dem georgische Saisonarbeitskräfte für die Landwirtschaft nach Deutschland vermittelt wurden. Die staatliche Beschäftigungsagentur der Republik Georgien legt sehr großen Wert auf die Rückkehr der migrierenden Personen. Dadurch möchte Georgien, das ebenso wie Deutschland einem massiven demographischen Wandel gegenübersteht, die dauerhafte Auswanderung von Arbeitskräften, also den sogenannten ‚brain drain‘, vermeiden. In dem Projekt konnten den Teilnehmenden nach Deutschland reisen, hier in der Landwirtschaft Einkommen generieren, sind zurückgekehrt und haben das Einkommen mit nach Georgien genommen. Das sind zwar relativ geringe Effekte, insbesondere aus ökonomischer Sicht. Diese waren allerdings von Anfang an absehbar und wurden dann auch weitestgehend wie geplant realisiert. Alle Akteure haben sich vorab auf die zugrundeliegenden rechtlichen und ethischen Standards, die den Prinzipien eines fairen Rekrutierungsprozesses entsprachen, geeinigt. Das ist aus unserer Sicht grundsätzlich nachhaltig. Zur Weiterentwicklung des Projekts haben wir den Projektträgern empfohlen, den Saisonarbeitern landwirtschaftsbezogene Kompetenzen zu vermitteln. Wenn Arbeitsmigration und der Ausbau von Berufsbildungskapazitäten zusammenwirken, entfaltet sich ein nachhaltiges Entwicklungspotenzial. Dieses Potenzial wird unter dem Begriff ‚Global Skills Partnerships‘ auch von der Bundesregierung in ihrer Fachkräftesicherungsstrategie gewürdigt.

Zur Person

Dr. Michael Sauer ist Professor für Sozialpolitik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Im Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung lehrt und forscht er zum Vergleich von Wohlfahrtsstaaten, der Transformation von Sozialsystemen, dem Fachkräftemangel sowie der potentialorientierten Ausgestaltung von Migrationspolitik. Vor seiner Zeit an der Hochschule hat er drei Jahre das Arbeits- und Sozialministerium der Republik Kosovo zu Fragen der Arbeitsmigration beraten. Darüber hinaus war er zehn Jahre lang als freiberuflicher Trainer, Autor und Redakteur bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Bonn beschäftigt.

Forschungsprojekt

Das Forschungsteam der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg hat unter der Leitung von Professor Michael Sauer in einer explorativen Studie drei Projekte gesteuerter Arbeitsmigration untersucht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind darin der Frage nachgegangen, was gute Arbeitsmigration ausmacht und anhand welcher Kriterien der Erfolg eines Migrationsprozesses bemessen werden kann. Dazu befragten die Forschenden in einer Onlinebefragung Unternehmen des Bausektors zu ihren Bedarfen und Erfahrungen in Hinblick auf die Fachkräfterekrutierung aus Drittstaaten und führten qualitative Interviews mit potenziellen Migrierenden sowie Projektvertreterinnen und -vertretern in Deutschland und den jeweiligen Herkunftsländern. Im georgischen Projekt werden Fachkräfte für die saisonale Zuwanderung in der Landwirtschaft rekrutiert. In Kosovo werden junge Menschen nach Deutschland vermittelt, um dort eine Ausbildung im Bausektor zu absolvieren. Das dritte untersuchte Projekt in Vietnam verfolgt das Ziel, junge Menschen im Berufsfeld Zerspanungsmechanik nach deutschen Standards auszubilden. Den Fachkräften eröffnet sich nach dem Gedanken des ‚Global Skills Partnerships‘-Ansatzes nach der Ausbildung die Chance, entweder eine Arbeitsstelle in Vietnam anzutreten, oder nach Deutschland zu migrieren, um dort als Fachkraft zu arbeiten. Die ersten Ergebnisse des Forschungsprojekts werden im ersten Quartal veröffentlicht.